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Interview with Stefan by leading German Fashion Business Publication on state of play in Digital

Von Jelena Faber, TextilWirtschaft

Donnerstag, 30. April 2020


„Corona packt die Probleme des Handels auf Steroide.“ Stefan Wenzel spricht gerne Klartext. Der Digital-Experte ist seit über 20 Jahren im E-Commerce-Business, war auf Händler- (Otto, Brands4friends), Marken- (Mexx, Tom Tailor) und Marktplatz-Seite (Ebay) tätig. Wir blicken mit ihm auf die zaghafte Digitalisierung unserer Branche, die durch den Lockdown mehr oder weniger unfreiwillig an Fahrt aufgenommen hat.


TextilWirtschaft: Der Lockdown hat Brands und Händler ins Online-Business getrieben. Früher und weniger strategisch als geplant. Wie nachhaltig ist der Weckruf? Stefan Wenzel: Der Weckruf als solches wird sehr nachhaltig sein, das hier gerade ist im Ausmaß nichts weniger als tektonisch. Inwieweit aber die Reaktion darauf nachhaltig sein wird, wird man sehen. Die Chancen im Handel von morgen liegen im Digitalen – und das nicht erst seit Corona. Es braucht also Akteure aus Überzeugung, nicht aus Verzweiflung, um nachhaltig wettbewerbsfähig zu werden. Vieles in der Branche ist noch stark nach innen gerichtet, und Digitales wird mit einem Mix aus Skepsis und fehlendem Verständnis betrachtet. Hinter verschlossenen Türen bekommt man immer noch Angst machende Statements zu hören.


Sagen Sie jetzt nicht: Das Internet geht nicht mehr weg.

Das habe ich zwar schon länger nicht mehr gehört, aber manchmal sind die Sätze nicht weit davon entfernt.


Ein Beispiel?

Statements sind: Im E-Commerce kann man doch kein Geld verdienen. Oder: Das ist alles nur Venture Capital-gepusht. Nach dem Motto: Die guten alten Zeiten waren doch reeller. Je unreifer eine Organisation mit Blick auf Digitalisierung ist, desto überzeugter müssen die Eigentümer und Entscheider sein, um den Machern eine Start- und Landebahn hinzustellen. Oder zumindest den Sand, dass sie selbst die Start- und Landebahn planieren können.


Ist die Krise damit ein schlechtes Motiv, jetzt die Digitalisierung zu pushen?

Überzeugung wäre besser, dann wäre jetzt einiges einfacher, da man vor Jahren bereits angefangen hätte. Denn letztlich amplifiziert die Krise existierende Phänomene. Offline-Frequenzen und Umsätze sinken, Online wächst, Kunden verbringen einen Großteil ihrer Zeit auf ihrem Smartphone, nutzen soziale Medien. Das wurde durch den Shutdown des stationären Handels in einer drastischen Art überzeichnet und hat jedem gezeigt, inwieweit man darauf ausgerichtet war.


Was ist das entscheidende Problem?

Dass der stationäre Handel in vielen Fällen keinen wettbewerbsfähigen Kundenwert bietet, ist eigentlich die Essenz des Problems. Was ist denn meine Daseinsberechtigung als Händler in der Innenstadt? Früher war der Mehrwert durch das begrenzte Einzugsgebiet gegeben. Bestimmte Produkte habe ich nur dort bekommen. Durch das Netz ist dieser Gebietsschutz weg, alles ist überall verfügbar, Preise sind transparent. Das heißt, die Verfügbarkeit als solches ist kein Mehrwert mehr.


Mit welcher Folge?

Was jetzt natürlich passiert, ist, dass diejenigen, die vorher passiv waren, nun aus der Not heraus Maßnahmen übers Knie brechen. Das ist völlig verständlich, nur lassen sich ein jahrelanges Versäumnis und fehlende Investitionen nicht in 14 Tagen lösen. Corona hat hier mit Sicherheit etwas verändert und Digitalisierung quasi mit der Brechstange in die Unternehmen bewegt.


Was passiert nach Corona?

Es gibt zwei Probleme: Spät dran waren viele schon vorher, jetzt fehlt zudem aber auch noch das Geld. Die Liquidität ist extrem unter Druck, so dass nach Corona die notwendigen Investitionsgelder oft nicht zur Verfügung stehen werden. Ich bin daher skeptisch, wie nachhaltig der Effekt aus diesem Turbo-Stress sein wird. Auf der anderen Seite gibt es gut aufgestellte Player, die gestärkt aus der Krise kommen werden und von den Marktverschiebungen nachhaltig profitieren werden.


Plattformen zum Beispiel. Händler und Brands sind in den vergangenen Wochen vermehrt ihrem Lockruf gefolgt. Vermeintlich wenig Aufwand und überschaubare Investitionen, viel Reichweite und neue Kunden. Eine gute Entscheidung?

Viele gehen es zu romantisch an. Wenn ich in einem Marktplatz-Modell profitabel verkaufen und nicht völlig abhängig von der Plattform sein möchte, muss ich eigenes Fulfillment können. Da habe ich die gleiche Komplexität wie bei einem eigenem Online-Shop. Ich muss meine Artikel listen, brauche dafür strukturierte Produktdaten, muss Preise einspielen, Produktdaten und Preise kontinuierlich optimieren. So einfach ist das alles nicht.


Einfacher ist das Wholesale-Modell. Hier kann man quasi über Nacht starten.

Ja, das wäre der einfachste Weg. Da sieht die Realität aber so aus, dass die Plattformen dieses Business gar nicht mehr wollen. Sie haben überhaupt kein Interesse daran, sich schwer verkäufliches Inventar aufs Lager zu legen. Bei den Wachstumserwartungen der großen Plattformen wäre das auch mit Blick auf das Working Capital hoch problematisch.


Für viele bleibt somit nur der Zugang, selbst über den Marktplatz zu verkaufen. Auf was ist zu achten?

Vielen ist nicht bewusst, dass das Marktplatz-Modell in kleinen und mittleren Preislagen schwer profitabel zu betreiben ist. Die Plattformen optimieren ihre Warenkörbe ja nicht hinsichtlich der Frage, wer ist hier Verkäufer. Die User suchen Produkte, und im Warenkorb landen gegebenenfalls vier Artikel von vier verschiedenen Verkäufern. Das ist für die Plattform kein Problem und für den User auch nicht, der bekommt halt vier verschiedene Sendungen. Das Problem liegt auf der Verkäuferseite, denn jeder dieser vier Verkäufer muss einen einzigen Artikel ausliefern. Die Versandkostenquote in Relation zum Umsatz ist damit hoch, oft zu hoch für einen positiven Deckungsbeitrag II. Das ist eine Komplexität, die die meisten unterschätzen.


Die meisten Marktplätze bieten zudem Free Shipping an.

Das kommt noch dazu. Die Seller können keine Versandkosten verlangen, müssen also die komplette Transaktion aus dem Deckungsbeitrag dieses einen Artikels bezahlen. Da können sie von 5 bis 7 Euro alleine für Versand- und Logistikkosten ausgehen bei hohen Retourenquoten. Plus 2 bis 3 Euro Provision für den Marktplatz. Und dann haben sie vielleicht noch 2 Euro für Performance Marketing auf der Plattform bezahlt. Da bleibt nicht viel übrig.


Viele hoffen auf Folgebestellungen.

Sie schicken das Paket raus, generieren aber keine Kundendaten, mit denen sie später CRM für ihren Direktvertrieb machen können. Keine Folgebestellungen, keine Monetarisierung.


Was ist die Lösung?

Wenn der Warenrohertrag eines einzigen Artikels nicht ausreicht, muss die Anzahl der Artikel je Warenkorb größer werden. Dafür muss man über Mechaniken im Plattform-Ökosystem sprechen. Welche Form von verkäuferorientiertem CRM gibt es auf den Plattformen? Welche Möglichkeiten gibt es, dass der Seller durch Incentivierung oder durch Cross-Selling seine Warenkörbe befüllt bekommt?


Welcher Verkäufer hat die Power, das von den Plattformen einzufordern?

Man muss sich zusammentun. Es gibt überall Interessengruppen, warum hier noch nicht? Aber das wird kommen, für die großen offenen Marktplätze gibt es das schon.


Wechseln wir mal die Perspektive. Was sagt es über Marken aus, auf Plattformen zu gehen?

Inwieweit Plattformen das passende Umfeld für eine Marke sind, muss die Marke für sich bewerten. Große Plattformen haben enorm viel Traffic, das Konzept basiert aber primär auf der Onsite-Suche, nicht auf dem Browsing. Es geht also um Bedarfsdeckung und nicht -weckung, und damit ist Inspiration keine Kernkompetenz. Zudem ist die Plattform als solches der formgebende Rahmen und damit die primäre Marke, die angebotenen Produkte sind dabei Content für die Kuration. Der Umsatz läuft über die Suche und Algorithmen.


Was heißt das für Marken?

Das heißt, man muss in den Suchergebnissen weit oben stehen. Deswegen geht es beim Plattform-Business darum zu verstehen, wie man Sichtbarkeit generiert. In den Suche-Algorithmen punkten Metriken wie der Deckungsbeitrag, den der Marktplatz mit diesem Verkauf machen würde, Conversion Rates, Abverkaufs- und Retourenquoten, Kunden-Bewertungen und Fulfillment-Performance. Daraus ergibt sich dann die Rangreihenfolge im Suchergebnis und darauf muss ich meine Artikel-Listings optimieren. Das ist das Geschäft. Da ist wenig Branding. Wenn ich glaube, dass mir ein Marktplatz dabei hilft, meine unabhängige Marke aufzubauen, dann ist das meistens eine Mär.


Kann ich mir denn als Marke erlauben, nicht auf Plattformen stattzufinden?

Als Mainstream-Marke wäre es sicherlich seltsam, wenn ich da nicht wäre, mein gesamtes Wettbewerberfeld aber dort stattfindet. Als Premium-Marke allerdings würde ich den Grenz-Umsatz zum evtl. Grenz-Effekt auf mein Image kritisch prüfen. Letztlich gebe ich mit meiner starken Premium-Marke einen Abstrahleffekt an die Plattform weiter. Da würde ich bei vielen Plattformen zögern. Das Umfeld, in dem man da stattfindet, trägt oft nicht dazu bei, dass eine Premium- oder gar Luxusmarke gewinnt.


Zurück zu Esprit&Co. Was tun?

Die wenigsten der hochvolumigen Anbieter haben den Entscheidungsluxus, entweder Plattform-Business oder einen eigenen Online-Shop zu betreiben. Sie sind zwangsläufig im Und-Modus. Die Krux daran ist, dass das in der Firmenstrategie noch nicht überall vernünftig synthetisiert wurde. Plattformen sind die Warenhäuser und Multilabel-Anbieter von morgen. Eigentlich müsste das Geschäft auf den Plattformen – auch mit Blick auf Konditionen – so skaliert werden, dass es mittelfristig das schrumpfende traditionelle Geschäft überkompensieren kann.


Wie muss die Sortimentsstrategie ausgerichtet werden?

Zunächst ist es notwendig, die datentechnischen Voraussetzungen zu schaffen. Marktplätze sind dynamische Systeme mit Fluktuation in Nachfrage. Das zu verstehen und darauf zu reagieren, ist die Kunst. Dafür braucht man eine Datenschicht und Tools, damit z.B. der Einkauf die Warensteuerung entsprechend anpassen kann. Stand heute sind die wenigsten in der Lage, das pro Plattform optimal zu adjustieren. Sie kippen über Marktplatz-Anbinder das Sortiment auf die Plattform, der Bestand fällt, dann kippen sie nach. Es gibt in den seltensten Fällen die Möglichkeit, Bestände virtuell zu reservieren, Preise je nach Plattform und Uhrzeit anzupassen.


Wann erreichen die Plattformen den nächsten Reifegrad?

Es wird viel investiert, die Entwicklung wird rasch weitergehen. Allein zwischen Zalando und About You läuft ein spannender Wettkampf um die Fashion-Führerschaft. Wer macht den besten Job hin zum Kunden? Wer bekommt mehr organischen Traffic auf die Seite? Wie gut spiele ich das Social Playbook? Wie bekommen sie höhere Wiederkaufswerte? Genauso: Wer macht den besseren Job mit Blick auf die Seller? Welche Services biete ich ihnen an, um Liquidität und Profitabilität optimal auszuschöpfen?


Und? Wer gewinnt?

Zalando hat in der Entwicklung des Ökosystems noch die Nase vorne. Von Marketing- und Fulfillment-Services bis hin zu ihrem Retail Programm, über das sie auch den Offline-Bestand schon angedockt bekommen. Das läuft technisch ganz hemdsärmelig, ist aber genau richtig für die technischen Möglichkeiten der angeschlossenen Händler. Aber auch About You meint es ernst. Sie sind gut unterwegs. Das ist schon sehr beeindruckend.


Muss About You bald an die Börse?

Das ist eine spannende Frage. Wer investiert all das Wachstum? Frisches Fremdkapital, über welchen Weg auch immer, wird bald Thema.


Ist Otto ein ernstzunehmender neuer Wettbewerber in diesem Zweikampf?

Otto ist in der Wahrnehmung mit Verspätung gestartet, obwohl sie schon seit Ewigkeiten ein Marktplatz-ähnliches Modell live hatten. Jetzt scheint der gordische Knoten zerschlagen. Sie haben die ECE im Hintergrund, können also auch Connected Retail spielen. Das verlässliche Uhrwerk des Otto-Konzerns wird dafür sorgen, dass da substanzielle Qualität – vielleicht etwas langsamer, aber nachhaltig – entsteht. Gut wäre es, wenn weitere Player dazukommen, damit die Großen nicht einschlafen.



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