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F.A.Z. Gast-Artikel: Wie Shein und Temu den (Mode-)Markt revolutionieren

Fast-Fashion-Player wie H&M oder Zara haben zuerst begonnen, dem trägen Modehandel Trendnähe und Tempo beizubringen. Jetzt setzen Shein und Temu noch einen Stein obendrauf. Ein Gastbeitrag von Stefan Wenzel

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Wie Shein und Temu den (Mode-)Markt revolutionieren


Fast-Fashion-Player wie H&M oder Zara haben zuerst begonnen, dem trägen Modehandel Trendnähe und Tempo beizubringen. Jetzt setzen Shein und Temu noch einen Stein obendrauf. Ein Gastbeitrag von Stefan Wenzel.


Während Zara die Schweden längst überholt hat, fahren die Spanier zwar mit mehr Dynamik deutlich erfolgreicher, aber aufgrund ihres hohen stationären Anteils und damit individuell zu steuernder Läden dennoch mit angezogener Handbremse.


Die digitale Weiterentwicklung des vertikal integrierten Modells ohne stationäre Handbremse nennt sich „Realtime-Fashion“ oder „On-Demand-Fashion“ und basiert auf einem Modell namens „Consumer-to-Manufacturer“ (C2M). Realtime oder on demand, weil gefragte Trends mittels Künstlicher Intelligenz in Echtzeit identifiziert und innerhalb weniger Tage als kaufbares Produkt in der App und auf der Website angeboten werden. Consumer-to-Manufacturer, weil Kunden weltweit und ohne Zwischenhändler direkt über die Plattformen mit Herstellern in den Produktionsländern zusammengebracht werden.


Das ist nicht weniger als die Umkehrung des bisherigen Handelsmodells, bei dem Einkäufer mit monatelangen Vorlaufzeiten versuchen, die Zukunft in Form von Trends und trendigen Einzelartikeln vorherzusagen. Das Ergebnis sind zweistellige Überhänge am Ende einer Saison, die kostspielig verwertet werden und zum Teil umweltschädlich im Müll landen. C2M produziert in wenigen Wochen, was zum Beispiel in sozialen Netzwerken gefragt ist, und bedient damit konkret vorhandene Nachfrage. Es wird dabei oft in kleinen Mengen erst getestet, bevor große Mengen nachproduziert werden. Das funktioniert in dieser Geschwindigkeit nur in rein digitalen Modellen. Echtzeit und der Verzicht auf Zwischenhändler sind zwei wesentliche Gründe für die grundsätzlich höhere Effizienz des C2M-Modells.


Shein und Temu sind zwei solcher C2M-Unternehmen, die aufgrund ihrer hohen Wachstumsdynamik seit einiger Zeit von sich reden machen. Auch Shein hat H&M bereits hinter sich gelassen und ist auf dem besten Weg, in diesem Jahr den Banchenprimus Zara vom Thron zu stoßen


Doch was genau sind Shein und Temu?

Shein ist ein On-Demand-Händler, der 2008 für den Vertrieb von Bekleidung gegründet wurde und mittlerweile ein Produktangebot hat, das weit über Mode hinausgeht. Nicht zuletzt durch die Konkurrenz von Temu bietet Shein mittlerweile fast alles auf seiner Plattform an, von Home & Living über Elektronik bis hin zu Haushaltswaren, Tier- und Autozubehör. Das Unternehmen hat seinen ursprünglichen Sitz von Guangzhou, China, nach Singapur verlegt und liefert in über 220 Länder und Regionen – außer nach China. Ursprünglich als quasi vertikales Modell mit angeschlossenen Produzenten gestartet, bindet Shein nun auch Lieferanten über eine Marktplatzkomponente an. Die angebotenen Verkaufspreise liegen deutlich unter denen traditioneller Einzelhändler.


Temu ist ein relativ neuer Onlinehändler, der im September 2022 gegründet wurde und im Gegensatz zu Shein von Anfang an auf verschiedene Kategorien und ausschließlich auf das Marktplatzmodell gesetzt hat. Das Unternehmen hat seinen Sitz in Boston, Massachusetts, und gehört zu Pinduoduo, einem der größten E-Commerce-Unternehmen in China. Temu ist für seine noch niedrigeren Preise als Shein bekannt, die in der Regel 20 bis 30 Prozent unter denen von Shein liegen.


Obwohl die Kernzielgruppen trendbewusste und preissensible Teile der Generation Z sowie junge Familien sind, finden immer mehr demographische Gruppen ihren Weg auf die Plattformen.


Warum sind Shein und Temu so beliebt?

Auf Nachfragesignale optimierte Ware zu teilweise surreal niedrigen Preisen über digitale Apps und Shops zu verkaufen ist nicht nur in Zeiten knapper privater Kassen ein attraktives Konzept, die aktuelle wirtschaftliche Situation gibt aber mit Sicherheit zusätzlichen Rückenwind. Gepaart mit schneller Produktion, hohen Werbeausgaben, ausgeklügelter Social-Media-Werbung und damit Reichweiten jenseits aller Topmarken erklärt sich das rasante Wachstum.


Dass diese Plattformen zudem die Aktivierung ihrer Nutzer in Art, Weise und Umfang gegenüber bisherigen Standards ungewöhnlich forcieren, lässt klassische E-Commerce-Anbieter aufhorchen. Um dem unweigerlichen Ramsch-Image entgegenzuwirken, erweitert Shein sein Portfolio durch den Zukauf von Marken. Die Gen-Z-Marke Forever 21 gehört bereits zu Shein, über den Kauf der Marke Misguided wird angeblich derzeit verhandelt.

Temu ist Teil von Pinduoduo, einer digitalen Sammelbesteller-Plattform in China für den Direktvertrieb von Gemüse & Co. mit rund 20 Milliarden Euro Handelsumsatz. Temu ist erst ein knappes Jahr alt und für Pinduoduo erst einmal nur ein Test. Das investive Wachstum ist beeindruckend, ob das Konzept jenseits von PR und hohen Umsatzzuwächsen jemals wirtschaftlich tragfähig sein wird, bleibt abzuwarten.


Man fühlt sich bei allen Plattformen mit Durchschnittspreisen unter 10 Euro unweigerlich an Wish erinnert, einem ganz anderen, aber in Teilen eben dennoch ähnlichem Ansatz. Wish ist nach einigen Jahren und viel Anfangshype wieder in der Versenkung verschwunden.

Nicht zuletzt, weil die Kundenerfahrung mit den Schnäppchen eher einem Kirmeslos ähnelte. Shein ist allein schon aufgrund seines Alters und der längeren Entwicklung deutlich substanzieller, schlechte Kundenerfahrung, die Verwässerung der Proposition von Fashion zu Gemischtwaren und nicht zuletzt die Erweiterung um die Marktplatzkomponente sind aber auch für Shein Risiken.


Wenngleich Deutschland es erst jüngst auf die Prioritätenliste der Asiaten geschafft hat, ist die Traktion beachtlich und die Nervosität bei den deutschen Plattform-Platzhirschen und Preisführern entsprechend. Logistikexperten schätzen die Zahl der Paketsendungen nach Deutschland in diesem Jahr allein für Shein auf rund 30 Millionen. Damit dürfte der Umsatz von Shein in Deutschland bereits die Milliardengrenze überschreiten. Temu übertrifft Shein in Deutschland bereits um den Faktor 2, so die Schätzungen.


Was wird kritisiert?

Die Themenliste der Kritiker reicht von angeblich unmenschlichen Arbeitsbedingungen, chemisch belasteten Textilien, nicht für den Handel in Deutschland zugelassener Ware wie Elektronik bis hin zur Umweltverschmutzung durch die systematische Skalierung des nicht kreislaufgerechten Wegwerfkonsums. Auch gab es – inzwischen glaubhaft widerlegte – Spekulationen über Logistiksubventionen über den international gültigen Weltpostvertrag, in dem China noch vor wenigen Jahren als förderungswürdiges Entwicklungsland eingestuft wurde. Darüber hinaus sind die Schwellenwerte für die zollfreie Einfuhr von Einzelsendungen (150 Euro) und die offene Frage von Marktbeobachtern, ob teilweise systematisch falsch deklariert wird, während dem Zoll die Mittel und Wege fehlen, ausreichend große Stichproben zu überprüfen, immer wieder Gegenstand der Diskussion.


Während wir Regulierung diskutieren, entwickeln sich parallel die Logistik- und Versorgungskonzepte von Shein & Co. jedoch weiter. So gibt es nicht nur bereits erste Distributionszentren in Polen, sondern auch angebundene Produzenten zum Beispiel in der Türkei. Es wird in ein Netz von Warenlagern in Europa investiert, das es ermöglicht, Bestände im EU-Binnenmarkt zu bewegen und Endkunden nach EU-Vorschriften und -Tarifen zu bedienen.


Schlussfolgerung

Das wahrscheinlich größte Risiko der neuen Value-Player sind neben der Wachstumsfinanzierung schlechte Kundenerfahrungen, denn auch der günstigste Preis braucht ein akzeptables Produkt- und Serviceerlebnis. Fehlende oder unvollständige Lieferungen, defekte Produkte, eine zu kurze Lebensdauer, Hautreaktionen durch chemische Belastungen der Materialien und Ähnliches führen zu Abwanderung teuer gewonnener Neukunden und damit weg von einem tragfähigen Geschäftsmodell.

Darauf sollte der Handel hierzulande aber nicht hoffen und sich stattdessen fragen, was passiert, wenn Regulierung zu spät kommt oder kaum hilft, sich die Angebotsqualität ESG-konform verbessert, höhere Preislagen auch den C2M-Weg wählen oder andere Produktionsländer nachziehen.


Während sich die einen mit Kritik und Regulation beschäftigen, lohnt es, den größeren Teil der Energie in die eigene Innovation zu investieren und zu prüfen, welche Teile der neuen Modelle sinnvoll und übertragbar sind. Die KI-basierte Halbierung von Überproduktionen am tatsächlichen Bedarf vorbei und die Reduzierung von Retouren, eine effizientere Lieferkette, eine wertstiftende Kundenaktivierung über drei bis vier Einkäufe pro Jahr hinaus – alles Themen, die in einer ESG-konformen Variante viel Potential haben.


Die wichtigste Aufgabe liegt aber vor allem in der Weiterentwicklung der eigenen Propositionen und Konzepte. Gebraucht werden relevante Leistungsversprechen in Abgrenzung zu den neu belagerten Spielfeldern, auf denen man wahrscheinlich nicht mehr gewinnen kann oder nicht mehr gewinnen wollen sollte. Diese Form von Innovation ist nicht nur wichtig, sondern mittlerweile auch dringlich.


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