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Das Ende des Dynamit-Fischens im Handel? Gast-Artikel von Stefan Wenzel

Teile des Handels haben die Digitalisierung bereits verschlafen, stellt Stefan Wenzel fest. Künstliche Intelligenz schickt sich nun an, in einem weiteren Bereich Ineffizienzen zu reduzieren: dem Finden und Auswählen der richtigen Produkte für unsere Bedürfnisse.


Artikel von Stefan Wenzel über den Einfluss von KI auf den Handel

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Stefan Wenzel, 9. Dezember 2024


Das Ende des Dynamit-Fischens


Teile des Handels haben die Digitalisierung bereits verschlafen, stellt Stefan Wenzel fest. Künstliche Intelligenz schickt sich nun an, in einem weiteren Bereich Ineffizienzen zu reduzieren: dem Finden und Auswählen der richtigen Produkte für unsere Bedürfnisse.

Men­schen kau­fen jen­seits des täg­li­chen Bedarfs in der Regel nicht ein­fach nur Pro­duk­te – sie haben eine Mis­si­on, einen Ziel­zu­stand, den sie errei­chen wol­len. Pro­duk­te sind Mit­tel zu die­sem Zweck, nicht der Zweck an sich. Wer Wand­far­be kauft, will sein Zuhau­se ver­schö­nern, viel­leicht sogar sein Leben ver­än­dern. Wer einen Bla­zer kauft, will gut aus­se­hen, mög­li­cher­wei­se Kom­pe­tenz oder Erfolg aus­strah­len. Die­se "jobs to be done" sind der eigent­li­che Motor hin­ter vie­len Kon­sum­entschei­dun­gen.


Für den Han­del ist es schwie­rig, die­se Mis­sio­nen zu erken­nen und dar­auf ein­zu­ge­hen, nicht zuletzt wegen der Viel­falt der Bedürf­nis­se. Off­line ist das ohne­hin schwie­rig, doch auch online reagiert man auf die nicht ver­stan­de­nen Mis­sio­nen bis­lang haupt­säch­lich mit unend­li­chen Sor­ti­men­ten in end­lo­sen vir­tu­el­len Rega­len – das Prin­zip des Dyna­mit-Fischens.

Die Fol­gen? Enor­me Streu­ver­lus­te, gerin­ge Sor­ti­ments­pro­duk­ti­vi­tät und eine User-Expe­ri­ence, die jen­seits der hübsch gestal­te­ten Start­sei­ten oft eher frus­trie­rend als hilf­reich ist. Die hohen Sor­ti­ments­kos­ten wer­den dabei durch Markt­platz­erwei­te­run­gen an Drit­te aus­ge­la­gert, die Kura­ti­on an den Nut­zer dele­giert. Der muss sich durch Fil­ter, Sor­tie­run­gen und lan­ge Lis­ten kämp­fen, um am Ende immer noch vor einem Berg kaum unter­scheid­ba­rer Arti­kel zu ste­hen. Wer das nicht glaubt, suche auf der Platt­form sei­nes Ver­trau­ens nach einer blau­en Damen­blu­se.


Doch unser Gehirn bevor­zugt den Auto­pi­lo­ten. Es ver­sucht, Denk­ar­beit zu ver­mei­den und Ent­schei­dun­gen zu ver­ein­fa­chen. Je mehr die Such­ergeb­nis­se in Shops von unse­rer Fähig­keit abhän­gen, Fil­ter rich­tig zu set­zen und Ergeb­nis­se zu inter­pre­tie­ren, des­to grö­ßer ist die Gefahr, dass wir ein­fach nichts kau­fen, um eine mög­li­che Fehl­ent­schei­dung zu ver­mei­den.

Um die­ses Pro­blem zu lösen, galt unter ande­rem Per­so­na­li­sie­rung lan­ge als die Wun­der­waf­fe des digi­ta­len Han­dels. In der Pra­xis hat sich jedoch wenig getan. Im welt­wei­ten Durch­schnitt hat sich der Anteil der Nicht-Käu­fer in den letz­ten 20 Jah­ren von mise­ra­blen 98% um ledig­lich zwei Punk­te auf immer noch schlech­te 96% ver­bes­sert. Die Grün­de dafür sind viel­fäl­tig, lie­gen aber unter ande­rem in der Qua­li­tät der Pro­dukt­da­ten und der man­geln­den Fähig­keit der Shops, dar­aus wirk­lich über­zeu­gen­de Nut­zer­er­leb­nis­se zu kre­ieren.

Künstliche Intelligenz schickt sich an, in einem weiteren Bereich die Ineffizienzen des Handels zu reduzieren: dem Finden und Auswählen der richtigen Produkte, der richtigen Hilfe für unsere „jobs to be done“.

Tech­no­lo­gi­sche Dis­rup­ti­on ent­steht oft als Ant­wort auf Inef­fi­zi­en­zen. Das ist einer der Grün­de, war­um wir heu­te Musik-Kata­lo­ge strea­men, statt Rega­le mit ein­zel­nen Vinyls zu fül­len, unse­re Bank­ge­schäf­te 24/7 von zu Hau­se aus erle­di­gen und Nach­rich­ten auf dem Smart­phone immer aktu­ell kon­su­mie­ren, statt vom Vor­tag in der Zei­tung vom Kiosk. Die ers­te Pha­se der Digi­ta­li­sie­rung hat bereits eini­ge Inef­fi­zi­en­zen im Han­del redu­ziert – wenn auch vor allem in der Abwick­lung: Tech­no­lo­gie hat den müh­sa­men Weg zum begeh­ba­ren Lager in der Innen­stadt, das Picking durch die Kun­den, das War­ten an der Kas­se und die Logis­tik der letz­ten Mei­le mit Tüten in der S‑Bahn obso­let gemacht.


Künst­li­che Intel­li­genz schickt sich nun an, in einem wei­te­ren Bereich die Inef­fi­zi­en­zen des Han­dels zu redu­zie­ren: dem Fin­den und Aus­wäh­len der rich­ti­gen Pro­duk­te, der rich­ti­gen Hil­fe für unse­re „jobs to be done“. Ein ers­ter Schritt in die­se Rich­tung ist der viel dis­ku­tier­te Shop­ping-Pilot von Per­ple­xi­ty in den USA. Die KI-basier­te Such­ma­schi­ne ver­steht kom­ple­xe Such­an­fra­gen, kom­bi­niert ver­schie­de­ne KI-Model­le und ver­ar­bei­tet visu­el­le Anfra­gen über hoch­ge­la­de­ne Bil­der. Sie durch­fors­tet das Netz, extra­hiert sämt­li­che ver­füg­ba­ren Infor­ma­tio­nen und lie­fert kon­text­be­zo­ge­ne Emp­feh­lun­gen. Damit Nut­zer Per­ple­xi­ty nicht ver­las­sen müs­sen, ist die Kauf­op­ti­on samt Check-out direkt inte­griert.


Es geht aber nicht um Per­ple­xi­ty und wie wenig die­se ers­ten Ver­sio­nen viel­leicht beein­dru­cken. Wei­te­re KI-Model­le und Anbie­ter wer­den fol­gen, die Qua­li­tät der Ergeb­nis­se und die Umset­zun­gen wer­den bes­ser wer­den. Ent­schei­dend ist viel­mehr die grund­sätz­li­che Fähig­keit von KI, unse­re „jobs to be done“ zu ver­ste­hen und kom­ple­xe, mehr­di­men­sio­na­le Lösun­gen als Ant­wort dar­auf zu geben. Wer bei­spiels­wei­se sei­ne Stim­mung auf­hel­len will, dem emp­fiehlt KI ein Wochen­en­de im Baye­ri­schen Wald, ein Well­ness­ho­tel am Tegern­see und pas­sen­de Johan­nis­kraut-Prä­pa­ra­te. Aber auch bei ein­fa­chen Pro­dukt­su­chen kann KI unstruk­tu­rier­te Pro­dukt­da­ten bes­ser ver­ar­bei­ten, sämt­li­che ver­füg­ba­ren Infor­ma­tio­nen, Test­be­rich­te und Exper­ten­mei­nun­gen in die Emp­feh­lung ein­flie­ßen las­sen.


Solan­ge Anbie­ter wie Per­ple­xi­ty die benö­tig­te Ergeb­nis­qua­li­tät schaf­fen und als neu­tral genug wahr­ge­nom­men wer­den, haben sie mit die­sen Fähig­kei­ten einen erheb­li­chen Vor­teil gegen­über klas­si­schen Pro­dukt­da­ten-Such­ma­schi­nen und Online-Shops, deren Such­tech­no­lo­gien schon heu­te an der wach­sen­den Men­ge an Markt­platz-Ange­bo­ten und den vor­han­de­nen Pro­dukt­da­ten schei­tern. Iro­ni­scher­wei­se geschieht dies zu einer Zeit, in der Retail Media als gro­ßer Bran­chen­trend den Lärm in den bereits nur bedingt hilf­rei­chen Shops mit immer mehr Bezahl­wer­bung noch unüber­sicht­li­cher macht. Qua­si ein Gegen­ent­wurf zum Kun­den­wunsch nach mehr Signa­len statt mehr Lärm. 

Vielleicht gar nicht so weit weg ist eine Zukunft, in der persönliche KI-Assistenten der Kunden mit Händlern Verfügbarkeiten und Konditionen aushandeln.

Doch die Ent­wick­lung geht wei­ter. KI wird nicht nur den Ein­kauf von Pro­duk­ten ermög­li­chen, son­dern auf Wunsch wer­den KI-Agen­ten über soge­nann­te Auf­ga­ben­ket­ten („Task-Chains“) gleich die kom­plet­te Urlaubs­pla­nung über­neh­men – inklu­si­ve Hotel­bu­chung, Rou­ten­pla­nung, Kalen­der­ein­trä­gen und Taxi­be­stel­lung bis hin zur Abwe­sen­heits­no­tiz in Out­look. Die tech­ni­schen Bau­stei­ne dafür sind bereits vor­han­den, und die Betriebs­sys­te­me auf dem Smart­phone wer­den zudem alles dar­an set­zen, als per­sön­li­cher Agent ober­halb von KI-Suchen und Sprach­mo­del­len neue, eige­ne Grä­ben um den Nut­zer und sei­ne Mis­sio­nen her­um­zu­zie­hen.

Ist das das Ende des Han­dels? Wahr­schein­lich nicht, aber viel­leicht das Ende des Dyna­mit-Fischens. KI-Suchen und ‑Assis­ten­ten stel­len eine neue Kon­kur­renz für die bis­he­ri­ge Pro­dukt­su­che dar und bedro­hen damit einen wich­ti­gen Teil der Wert­schöp­fung im Han­del – auch die Erlö­se von Retail Media, denn weni­ger Traf­fic bedeu­tet weni­ger Wer­be­in­ven­tar. Je grö­ßer und undif­fe­ren­zier­ter das Sor­ti­ment eines Händ­lers, je schlech­ter die Ori­en­tie­rung für den Nut­zer, des­to grö­ßer die Angriffs­flä­che für KI-Suchen. Und je tie­fer die Inte­gra­ti­on von Han­del in KI-Diens­te („Buy with Per­ple­xi­ty Pro“, Apple Intel­li­gence, Goog­le Gemi­ni et al.), des­to grö­ßer das Risi­ko für die Wert­schöp­fung im Han­del.


Uto­pisch, aber viel­leicht gar nicht so weit weg ist eine Zukunft, in der per­sön­li­che KI-Agen­ten mit Händ­lern Ver­füg­bar­kei­ten und Kon­di­tio­nen aus­han­deln und Ver­trä­ge abschlie­ßen. Sys­tem zu Sys­tem, ähn­lich den elek­tro­ni­schen Han­dels­sys­te­men der Bör­sen, ohne dass ein Shop als Front­end über­haupt invol­viert ist und damit auch KI-Agen­ten zur Ziel­grup­pe der Händ­ler und deren CRM wer­den.


Teile des Handels haben die Digitalisierung bereits verschlafen, das Ergebnis kennen wir. Künstliche Intelligenz dürfte einen noch größeren Einfluss haben.


Aber zurück zur Gegen­wart: Gegen die Bedro­hung hel­fen Bewe­gung und Inno­va­ti­on, und der Han­del hat Hand­lungs­mög­lich­kei­ten. Das Spek­trum reicht von der Opti­mie­rung und Ver­brei­tung der eige­nen Daten, damit das eige­ne Ange­bot von den ver­schie­de­nen KI-Model­len erkannt und im Ide­al­fall als rele­vant ein­ge­stuft wird, über Koope­ra­tio­nen mit KI-Anbie­tern bis hin zur Schaf­fung ech­ter Mehr­wer­te am eige­nen Front­end durch den Ein­satz von KI oder sogar Low-Tech durch manu­ell erstell­te, trenn­schar­fe Kon­zep­te.


Anders als bei Per­so­na­li­sie­rung oder den KI-Pilo­ten aus Ber­lin und Ham­burg braucht es aber ech­te Mehr­wer­te für den Nut­zer. Ent­schei­dend ist nicht, dass etwas getan wird, son­dern wie. Der ehe­ma­li­ge Buch­händ­ler aus Seat­tle hat übri­gens letz­te Woche unter dem Namen Ama­zon Nova eine KI-Groß­of­fen­si­ve als Öko­sys­tem vor­ge­stellt, das eige­ne Grund­la­gen­mo­del­le, güns­ti­ge­re KI-Chips, Super­com­pu­ter und das welt­weit größ­te ver­teil­te KI-Rechen­clus­ter umfasst. 


Tei­le des Han­dels haben die Digi­ta­li­sie­rung bereits ver­schla­fen, das Ergeb­nis ken­nen wir. Künst­li­che Intel­li­genz dürf­te einen noch grö­ße­ren Ein­fluss auf Wirt­schaft und Gesell­schaft haben. Wäh­rend in Deutsch­land der­zeit rund 20 Pro­zent der Han­dels­un­ter­neh­men Künst­li­che Intel­li­genz nut­zen, sind es in den USA bereits über 40 Pro­zent und bei den Groß­un­ter­neh­men über 60 Pro­zent. Es lohnt des­halb, in eine ange­mes­se­ne Vor­wärts­be­we­gung zu kom­men und die Zukunft zu gestal­ten, statt von ihr wei­ter abge­hängt zu wer­den. 




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