E-COMMERCE EXPERTE STEFAN WENZEL ZU MODEHAUS.DE-MARKTPLATZ "Eine erfolgreiche Plattform aufzubauen ist die Königsdisziplin im Digitalen"
Von Judith Kessler Montag, 07. Juni 2021
Stefan Wenzel ist seit mehr als 21 Jahren im E-Commerce aktiv und hat sowohl auf Händler- und Marken-Seite als auch für Shopping-Clubs und globale Marktplätze digitale Strategien entwickelt und erfolgreich umgesetzt. Seine Vita beinhaltet Stationen als Geschäftsführer von Ebay Deutschland, brands4friends, Otto Niederlande, Mexx und Tom Tailor Digital.
Das Digitalnetzwerk Modehaus.de wagt den nächsten Schritt und will Marktplatz werden. Bei der Gründung sind 40 Händler aus Deutschland und Österreich dabei. Eine Plattform von Händlern für Händler − kann das funktionieren? Das haben wir E-Commerce-Experte Stefan Wenzel gefragt.
TextilWirtschaft: Herr Wenzel, über 40 mittelständische Modehäuser haben sich zusammengschlossen und wollen unter Modehaus.de einen eigenen Marktplatz gründen. Ist das eine gute Idee? Stefan Wenzel: Eins vorab: Erst einmal ziehe ich vor jedem den Hut, der Platzhirsche angreift. Wettbewerb belebt das Geschäft und treibt Innovation. Wenn sich Spieler zusammentun, ihre Kraft bündeln, um als Gemeinschaftskonstrukt den Markt wieder mehr mitzubestimmen, dann finde ich das erst einmal spannend und gut fürs Ökosystem. Aber? Zum einen sind Gemeinschaftskonstrukte in der Praxis schwer zu optimieren, da inhärente Zielkonflikte Geschwindigkeit und Präzision reduzieren. Zum anderen schwingt hinsichtlich der Motivation Trotz und Frust gegenüber den neu etablierten Platzhirschen wie Zalando & Co. mit. Überzeugung, eine Proposition in den Markt zu bringen, die Kunden besser bedient oder deren Probleme besser löst, hätte mir als Energiequelle besser gefallen. Denn was gebraucht wird, sind Konzepte, die losgelöst von kanalphilosophischen Lagern zu besseren Leistungsangeboten für Kunden führen. Modehaus.de sieht offen gesagt nach klassischem Inside Out-Case aus, der primär versucht, ein Business-, aber weniger ein Kunden-Problem zu lösen. Das macht Modehaus.de nicht? Zumindest ist in der aktuellen Phase noch nicht zu erkennen, welche Wünsche besser bedient oder welche Kundenprobleme besser gelöst werden sollen als das Zalando, About You & Co. bereits tun. Es werden aktuell ca. 5% des Zalando-Sortiments, ohne Kauf auf Rechnung, mit 5,95 Euro Versandkosten für eine Standard-Lieferung, nur über einen Desktop-Shop und mit einer zum Teil ungewöhnlichen User-Experience angeboten − man kann die Seite nicht einmal ohne Registrierung aufrufen. Alles lösbar, aber ein langer und, ohne virale Komponenten oder Netzwerk-Effekte, ein kapitalintensiver Weg. "Kapitalintensiv" – über welche Volumina sprechen wir da? Ganz grob: Vor 10 Jahren hat man mit rund 50 Cent pro Euro Umsatz ein klassisches E-Commerce-Geschäft aufbauen können. Heute kostet dieser Euro Umsatz wahrscheinlich eher 80 Cent oder mehr. Das heißt, wer zum Beispiel aus dem Nichts und ohne nennenswerte Netzwerk-Effekte ein 200 Millionen-Geschäft aufbauen will, wird mit einem Kapitalbedarf von 150 Millionen Euro und mehr konfrontiert. Und dann muss einem das Ganze ja auch noch inhaltlich, technisch und prozessual gelingen. Einen erfolgreichen Marktplatz bzw. eine Plattform aufzubauen, ist nun einmal die mutmaßliche Königsdisziplin in der digitalen Welt. Modehaus.de will sich einen Platz in der Nische zwischen den großen Marktplätzen erobern. Ist das so unrealistisch? Jede Plattform-Spielart kann nur eine kleine Handvoll Gewinner haben, denn es ist für den User kein Mehrwert das gleiche Angebot auf vielen, ähnlichen Plattformen zu finden. Das Thema ‚General Merchandise‘-Plattform ist zum Beispiel aktuell bereits mit Amazon, Ebay, Otto und einem Kaufland mehr als gut besetzt. Einzelne Vertikale und Spezialthemen sind noch mit mehr Luft für Wettbewerb. Fashion ist aber kein Beispiel dafür. Mit Zalando, About You, Asos und in Teilen der Otto Group sind schon mehrere zum Teil sehr vergleichbare Plattform-Propositionen im Massen-Markt, da kann nur durch wertstiftende Andersartigkeit Opportunität in der Verdrängung entstehen. Sehen Sie konkret Opportunitäten für die Modehaus.de-Händler? Wenn vom Kunden gedacht wird, habe ich alle Fantasie der Welt, auch dauerhaft immer wieder neue Dinge erfolgreich zu machen. Das ist schlicht eine Frage der Lösungs-Kreativität. Nehmen wir das Beispiel Mobile. Der Mobile-Anteil im E-Commerce liegt weltweit um die 70%, in Deutschland ein bisschen niedriger. Die Mobile Experiences im deutschen E-Commerce stammen aber bei den meisten großen Spielern aber noch aus der Zeit der Desktop-Shops. Das heißt, es wurden Onlineshops in das mobile Geräte-Format gepresst. Das lässt Raum für Innovation und neue Spieler, die User anders begeistern oder Probleme besser lösen. Mich wundert es, dass das in der Mode bisher noch keiner so richtig geknackt hat. Modehaus.de ist mit einem reinen Desktop-Konzept gestartet. Perspektivisch will man bei Modehaus.de erst einmal u.a. über kurartierte Outfits und Live Shopping-Events beim Kunden punkten. Aktuell ist keinerlei Kuration erkennbar, der User filtert sich durch eine EAN-Liste. Outfits sind aber ja natürlich sinnvoll, und werden bestimmt auch noch kommen. Problem ist, das machen alle anderen ja auch schon und die Großen vor allem ziemlich gut. About You und Zalando zeigen mehr Outfits als man browsen will, von hippen Influencern und urbanen Stylisten zusammengestellt. Inwieweit die Kurationen der auf Modehaus.de angebundenen Händler sich davon positiv abheben können, wird man abwarten müssen. Und Live Shopping? Das ist im Grunde ein No-Brainer und würde ich übrigens fast jedem empfehlen zu testen. Es ist relativ minimalinvasiv vom Investment und es gibt bereits fertige Technologie, die man dafür nutzen kann. Daraus kann natürlich auch eine nette Komponente entstehen, vorübergehend vielleicht sogar in Abgrenzung zu About You oder Zalando, die das nach meinem Kenntnisstand aktuell noch nicht machen. Live Shopping hat das Potential, dem Experience-schwachen E-Commerce mehr Leben und Interaktion (in Echtzeit) zu schenken. In China hat Live Shopping mit ca. 100 Mrd. Euro in 2020 mehr Umsatz erwirtschaftet als der gesamte deutsche E-Commerce zusammen. Ob das für Modehaus.de aber mehr als ein nettes Feature wird, werden die Konzepte zeigen. Was müsste Modehaus.de bieten? Ich würde mir von der Kundenproposition ausgehend die Karten legen und mich fragen, wie ich – wenn ich mein Schicksal im Kern weiter an einen stationären Footprint koppeln möchte – wettbewerbsfähig werde. Lokal und digital. Das muss mit dem Sortimentsprofil, der Inszenierung und dem Service-Erlebnis anfangen. Mode lebt vom Dopamin der Kunden, dem Thrill eines Artikels, der Story der Marke, mit der der eigenen Persönlichkeit Ausdruck verliehen wird. Mode-Kauf ist vor allem Belohnung, deshalb muss ich als Händler dieses Belohnungs-Bedürfnis über alle Touchpoints bedienen. Mit einem profilierten Sortiment, den richtigen Marken, und einer begehrlichen Inszenierung.
Begeisternde Berater auf den Flächen, digitale Medien und Tools für Marketing und CRM und digitale Touchpoints, die konzeptionell, in Ästhetik und Bedienbarkeit wettbewerbsfähig sind. Jeder Händler muss die digitale Klaviatur beherrschen, um gegen sinkende Offline-Frequenzen und den Druck seitens der Plattformen und Marken überhaupt erst einmal antreten zu können. Für Modehaus.de als Plattform greifen die Regeln der Plattform-Physik. Ohne Netzwerk-Effekte und die notwendige Liquidität auf der Nachfrage- und Angebotsseite wird Skalierung sehr teuer, da Traffic und Kunden immer wieder eingekauft werden müssen. Ihr Kollege Gerrit Heinemann, Leiter des eWeb-Research Centers der Hochschule Niederrhein, hat auf LinkedIn das Projekt als „Rohrkrepierer“ bezeichnet. Er schreibt, man trete nicht mit einem Pferdegespann zu einem Formel-Eins-Rennen an. Wie lautet Ihr Fazit? Gerrit Heinemann hat, zumindest zu dem heute sichtbaren Ansatz, Recht. Um in der Analogie seiner Metapher zu bleiben: Die Händler sollten erst gar nicht auf die Formel 1-Strecke gehen, egal mit was für einem Gefährt. Sie werden immer unterlegen sein, weil schon die Budgets so anders sind. Sie müssten daher eine alternative Rennserie entwickeln oder noch besser, einen ganz anderen Sport als Gegenangebot präsentieren. Damit der Zuschauer idealerweise von der Formel 1 umschaltet und sagt, das hier ist ja auch gut.
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